6. November 2020

Mitglieder des Naturschutzbeirates der Stadt Weimar (siehe Namensliste am Ende des Briefes)

An den Oberbürgermeister der Stadt Weimar Herrn P. Kleine

Schwanseestraße 17

99423 Weimar

Betr.: Ehemaliges EOW-GeländeWeimar

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kleine,

der Naturschutzbeirat der Stadt Weimar hat in seiner Sitzung am 29.10.2020 über die Entwicklung des ehemaligen EOW-Geländes diskutiert. Wir sind ein nach Maßgabe des Landesnaturschutzgesetzes von der Stadt Weimar berufenes, beratendes Gremium von ehrenamtlich tätigen Bürgern mit unterschiedlichen fachlichen Expertisen zur Unterstützung der Naturschutzbehörde.

Wie allgemein bekannt ist, erfolgte schon in den 1990ger Jahren auf Beschluss des Weimarer Stadtparlaments der städtische Ankauf des ehemaligen EOW-Geländes (7,6 Mio. DM) unter der Maßgabe des völligen Rückbaus und der Renaturierung des Areals. Ein entsprechender B(ebauungs)-Plan wurde erstellt, 2006 aktualisiert und bis 2012 kontinuierlich fortgeschrieben. Die Beschlussfassung des B-Planes ermöglicht eine Terminkette für den geplanten vollständigen Rückbau und ist Voraussetzung für die Antragsberechtigung zur Einwerbung von Fördermitteln. In Einer Anfrage der SPD-Fraktion im Jahre 2011 wurde von der Stadt bestätigt: „für den Rückbau besteht…ein rechtskräftiger Aufstellungsbeschluss“.

Die Gründe für den Nutzen des Rückbaus und der Renaturierung des Geländes sind vielfältig:

  • Durch die Schaffung/Erweiterung einer Frischluftschneise wird die Frischluftzufuhr aus Richtung Süden deutlich befördert.
  • Seit Planungsbeginn wurde immer wieder darauf verwiesen, dass das Offenhalten des EOW-Geländes für den Hochwasserschutz in Oberweimar sowie für das flussabwärts folgende Weimarer Stadtgebiet von größter Wichtigkeit ist.
  • Das vollständig entsiegelte und rückgebaute ehemaligen EOW-Gelände kann sich zu einem im Stadtgebiet von Weimar (und darüber hinaus) ökologisch wertvollen, bisher völlig unterrepräsentierten Lebensraum für Pflanzen und Tiere entwickeln. Das betrifft die Biozönosen (Organismen-Gesellschaften) der aquatischen Ökosysteme, der daran angrenzenden Feuchtgebiete sowie der entsprechenden Übergangszonen.

Zudem befindet sich das Areal an einer Nahtstelle zwischen den Lebensräumen des Weimarer Ilmparks und des Landschaftsschutzgebietes „Mittleres Ilmtal“. Mit seiner Renaturierung besteht die einmalige Chance, einen Biotopverbund dieser Ilmtal-Abschnitte zu schaffen. Dies ist ein wesentlicher Beitrag, um den für die lokale Arterhaltung (besonders der geschützten Arten) dringend erforderlichen Individuen- und Gen-Austausch im Norden und Süden des Weimarer Stadtgebietes zu gewährleisten. Weiterhin stärkt der Biotopverbund die Verbindung von Fauna und Flora der Stillgewässer entlang der Ilm mit den Alt-Armen der Ilm bei Taubach, den Brauerreiteichen in Ehringsdorf und dem bestehenden Teich am Rande des EOW-Geländes. Die Folge sind positive Effekte zum Erhalt bzw. der Rückgewinnung der Biotop- und Artenvielfalt.

  • Ein weiterer Aspekt ist die Besonderheit Weimars als Kulturstadt. Der Begriff „Weimarer Geist“ beschreibt nicht nur die immateriellen Werte, wie die Aura bedeutender Persönlichkeiten und deren geistiger Tradition (die in dieser Dichte in Deutschland keinen Vergleich findet), sondern auch die materiellen: Architektur und Stadtgestaltung, zu der auch unsere einzigarten Parks gehören. Ein „durchgehender Grünzug von Belvedere bis nach Tiefurt und ins Zentrum der Stadt“ ist ein alter Wunsch der Weimarer, der schon im 19. Jh. von Großherzogin Maria Pawlowna und Großherzog Carl Alexander angestrebt worden war.

Während der Nutzen für Klimaverbesserung, Hochwasserschutz und die Einbindung in das kulturelle Umfeld Weimars allein schon wichtige Aspekte sein dürften, die o.g. Pläne des Rückbaus und der Renaturierung des ehemaligen EOW-Geländes konsequent weiterzuverfolgen, möchten wir als Naturschutzbeirat besonders auf unser Fachgebiet verweisen, auf die Natur als wesentlichen Faktor einer lebenswerten Umwelt, für deren Erhalt wir alle Verantwortung tragen.

Auch wenn der B-Plan bisher vom Stadtrat nicht beschlossen wurde, setzte man die rechtsgültigen Gestaltungspläne in den vergangenen Jahren schrittweise um und hat bereits einiges erreicht. Insbesondere wurden und werden Ausgleichsmaßnahmen für Baumaßnahmen im Stadtgebiet in dieses Gebiet gelenkt. In Gebäudeabriss, Entsiegelung, Boden- und Grundwassersanierung, Anlegen von Flutmulden und Renaturierung ist bereits viel Arbeit investiert worden und viel Geld geflossen.

Die mit dem geplanten Verkauf bevorstehende Übertragung von städtischem Eigentum in privates versetzt all diesen bisherigen Bemühungen und Plänen geradezu einen Schlag ins Gesicht.

Wie der Weimarer Presse zu entnehmen ist, plant die Stadt nun, das Gelände an den privaten Investor Ingenieurbüro Hartung & Ludwig zu veräußern, der hier gern ein attraktiv gelegenes Firmengebäude durch Umbau des ältesten Hauses im Zentrum des EOW-Geländes (sowie Installation entsprechender Infrastruktur) errichten würde.

Diese Entwicklung ist für uns völlig unverständlich und wir kritisieren diesen Plan ausdrücklich, denn er läuft den oben genannten Zielen (Klima, Hochwasser, Naturschutz, kulturelles Erbe) vollkommen zuwider. Die Stadt Weimar vergibt damit die Möglichkeit der Umsetzung ihrer demokratisch abgestimmten Pläne.

Zudem erscheint uns die Verfahrensweise der Stadt, die Immobilie zu veräußern (ohne Ausschreibung!) äußerst fragwürdig und hochgradig intransparent.

Das Ingenieurbüro Hartung & Ludwig spricht, wie in ihrer Präsentationsveranstaltung dargestellt, von einer positiven UVP (Umweltverträglichkeitsprüfung) -Vorprüfung und Prüfung der Umsetzbarkeit durch ein (unabhängiges?) Büro (Firma Sweco), ohne Kommunikation wichtiger Details. Im Vorhaben von Hartung & Ludwig soll der Hochwasserschutz durch ein vom bisherigen Plan abweichendes Muldensystem gewährleistet sein, das in erster Linie die Nutzungswünsche (!) des Ingenieurbüros berücksichtigt. Die Versiegelung von Freiflächen sollen zum Großteil durchlässig gestaltet werden.

Mit Ausnahme des Ingenieurbüros selbst, das ein „flexibles und attraktives“ Gebäude mit „grünem Umfeld“ wünscht, mit „Schaffung von Außenbereich für Belegschaft (Garten)“ und in Aussicht stellt, „das Unternehmen langfristig in Weimar halten“ werden weder die Stadt Weimar noch die Umwelt irgendwelche Vorteile von der Bebauung haben. Es sind keinerlei klimatische und naturschutzrelevante Bemühungen und Effekt erkennbar, welche mit den oben erläuterten Renaturierungsplänen der Stadt vergleichbar wären.

Zwar wurden in der Präsentation des Ingenieurbüros die Begriffe „Abriss und Entsiegelung des Grundstückes“ und „Renaturierung“ genannt, aber ohne irgendeine Spezifikation (wahrscheinlich betreffen sie nur die im Zusammenhang mit den geplanten Umbaumaßnahmen nötigen Arbeiten). Das von der Firma favorisierte alternative Muldensystem im Zuge des Hochwasserschutzes ist unseres Wissens nicht auf gleichwertige Effekte im Vergleich zu den bisherigen Plänen geprüft worden. Wenn in der Präsentation der geplante Umbau mit Schlagwörtern wie „Nachhaltigkeit und CO2-Einsparung durch Nutzung alter Bausubstanz“ schöngeredet wird, sind das völlig unpassende und falsche Argumente.

Wir sehen ausschließlich negative Auswirkungen – und zwar drastische.

Die geplante Bebauung (bzw. Neunutzung durch Umbauten) führt anstelle einer Aufwertung des Gebietes durch Renaturierung und Biotopverbund zu einer extremen ökologischen Entwertung.

Durch den laufenden Arbeitsbetrieb (Verkehr durch Mitarbeiter, Kunden, Besucher) ist eine gravierende Störung jeglicher dort lebender Tierarten (z.B. Amphibien, Säugetieren und Invertebraten) unvermeidlich, von Beunruhigungen im Fortpflanzungs- und Nahrungsrevier bis zu einem wesentlich erhöhten Risiko steigender Zahlen von Straßenopfern („road kills“).

Darüber hinaus darf mit Recht angenommen werden, dass der Flächenverbrauch während und nach dem geplante (Um-)bau des Gebäudes nur ein erster Schritt ist, dem weitere Nutzungen (einmal in Privathand – dann als Bauland, Parkplätze usw.) folgen werden. In den vorgestellten Plänen ist noch nicht einmal ein öffentlicher Weg zwischen Steinbrückenweg und Pappelallee vorgesehen.

Wofür hat die Stadt Weimar Gewerbegebiete ausgewiesen, wenn nicht für die Gewerbeansiedlung auch raumgreifender Ingenieurbüros?

Sollte tatsächlich in der Mitte des EOW-Geländes ein großes Gebäude stehen bleiben, sehen wir die in den vergangenen fast 30 Jahren realisierten Ausgleichsmaßnahmen vollkommen entwertet.

Im Namen des Naturschutzbeirates appellieren wir daher dringend an Sie, als Oberbürgermeister sowie an die Stadträte/innen und die Beigeordnete für Stadtentwicklung und Umwelt, die bisherigen Pläne zur vollständigen Renaturierung des ehemaligen EOW-Geländes weiterzuverfolgen, was in vollem Umfang nur geht, wenn das Grundstück städtisches Eigentum bleibt.

Wir verweisen zudem auf die gesetzlichen Verpflichtungen auf Bundes-, Landes- und natürlich kommunaler Ebene für den Artenschutz und den Erhalt der Artenvielfalt angesichts des rasanten, global zu beobachtenden Artensterbens, auch in unserer Region insbesondere bei zahlreichen besonders bedrohten Insekten-, Vogel-  und Amphibiengruppen. In Zeiten, in denen weltweit Anstrengungen gegen das Artensterben unternommen werden, sollte im „überschaubaren“ kommunalen Rahmen hierfür ebenfalls alles getan werden. 

Wir denken, Sie haben Verständnis, dass wir um eine zeitnahe Beantwortung unseres Schreibens bitten.

Diskussionen zum Thema ehemaliges EOW-Gelände werden bereits seit einiger Zeit im öffentlichen Rahmen geführt. Wir möchten unseren Standpunkt in diese Diskussion einbringen und werden uns daher auch die verschiedenen Parteien des Stadtrates und an die Presse wenden.

Mit freundlichen Grüßen

folgende namentlich genannte Mitglieder des Naturschutzbeirates der Stadt Weimar

L.C. Maul (Biologe, stellv. Vorsitzender Naturschutzbeirat)

S. Pfütze (Grüne Liga)

U. Richstein (BUND Kreisgruppe Weimar)

G. Thierfelder (Artenschutzbeauftragter Hornissenschutz)

R. Bouska (BUND Kreisgruppe Weimar)

A. Lerch (NABU)

T. Pfeiffer (NABU/FG Ornithologie)

Dr. H. Brunnemann (Tierschutzverein Weimar/Apolda, Artenschutzbeauftragte Gebäudebrüter)

M. Krause (Grüne Liga)

S. Schauer (NABU)

B. Geyersbach (NABU/FG Ornithologie)

G. Vogel